Trotz Krise bestehe kein Grund zur Panik, sagt Klaus Müller im Interview. Volle Gasspeicher und eine nahezu betriebsbereite Infrastruktur für LNG-Importe haben die Ausgangslage für den kommenden Winter deutlich verbessert. Der Präsident der Bundesnetzagentur zeigt sich vom Tempo des Fortschritts beeindruckt und möchte den Schwung für den Ausbau der erneuerbaren Energien mitnehmen.
EID: Herr Müller, mit Beginn der Heizperiode 2022/2023 sind die deutschen Gasspeicher zu mehr als 99 Prozent gefüllt. Damit ist die Ausgangssituation deutlich besser als vor einem Jahr. Wie schätzen Sie die Szenarien derzeit ein? Werden wir auch ohne die russischen Gaslieferungen gut durch den Winter kommen?
Klaus Müller: Ja, es stimmt: die Ausgangssituation ist besser als im Sommer. Im November, also später als im Durchschnitt der vergangenen Jahre, wurde das erste Mal leicht aus- und nicht eingespeichert. Aber klar ist auch, gefüllte Gasspeicher alleine reichen nicht aus, um über mehrere kalte Wintermonate alle mit Gas zu versorgen. Unsere Daten zeigen jedoch gute Fortschritte beim Gassparen, sowohl in der Industrie als auch bei den privaten Kundinnen und Kunden. Jetzt dürfen wir nicht nachlassen. Mindestens 20 Prozent Einsparung bleiben das Ziel – auch wenn es kälter wird. Außerdem sind wir darauf angewiesen, dass die drei geplanten LNG-Terminals an der norddeutschen Küste Anfang des neuen Jahres einspeisen. Wichtig ist auch, dass der winterbedingte Rückgang der Importe sowie der Anstieg der aktuell besonders niedrigen Exporte eher moderat ausfallen.
EID: Wie trügerisch ist das Sicherheitsgefühl, das wir aufgrund der aktuellen Speichersituation erhalten? Die Gefahr einer Gasmangellage ist ja noch nicht gebannt, spätestens wenn das Thermometer fällt, spannt sich die Lage doch wieder an …
Klaus Müller: Es ist eine unserer wichtigsten Aufgabe als Bundesnetzagentur, für die Öffentlichkeit die notwendige Transparenz bereit zu stellen: Einerseits können wir die gute Nachricht verkünden, dass die Speicher gefüllt sind und damit ein wichtiges Ziel vor der Zeit erreicht wurde. Das ist beruhigend. Andererseits dürfen wir uns nicht darauf ausruhen, sondern müssen weiter sparen. Dabei wollen wir aber ein Gefühl der Sorge oder sogar Panik vermeiden. Ja, wir befinden uns in einer Krise. Aber besonnenes Handeln ist jetzt umso wichtiger. Wenn alle mitmachen, haben wir eine Chance, eine Gasmangellage zu vermeiden. Wir müssen dabei stets auch den Winter 23/24 im Blick behalten. Wir brauchen also einen sehr langen Atem.

Bild: picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd
EID: Bislang profitieren wir in Deutschland von steigenden LNG-Importen aus den Benelux-Staaten und höheren Gaslieferungen aus Norwegen. Hätten Sie vor einem Jahr erwartet, dass wir rechtzeitig zum Winterbeginn 2022/23 mindestens zwei eigene LNG-Terminals in Betrieb nehmen können?
Klaus Müller: Nein, das hätte ich nicht gedacht. Baubeginn war im Frühjahr. Und wenn man bedenkt, dass es sich hier gleich um mehrere umfangreiche Bauprojekte handelt, bin ich wirklich beeindruckt von dem Tempo des Fortschritts. Es sind ja nicht nur die Terminals; sie müssen auch noch mit dem Gasnetz verbunden werden. Dafür sind jeweils dutzende Kilometer Pipeline erforderlich. Und weit ins Gasnetz hinein muss die Infrastruktur ertüchtigt werden. Diesen Schwung müssen wir als nächstes auf den Ausbau erneuerbarer Energien übertragen.
EID: Welche Signale brauchen der Markt – und insbesondere die privaten und industriellen Gasverbraucher –, um den Gasverbrauch nachhaltig zu senken? Bislang reicht das Erreichte wohl noch nicht aus …
Klaus Müller: Ich denke schon, dass die historisch hohen Energiekosten ein starker Anreiz sind. Viele industrielle Unternehmen bemühen sich um alternative Energien oder stellen ihre Produktion auf sparsameren Verbrauch um. Bei den privaten Haushalten hatte ich einige Wochen Bedenken, dass meine Bitte zum Sparen nicht ankommt. Das hat sich aber aktuell geändert. Inzwischen sehen wir auch hier einen deutlich geringeren Verbrauch im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der Jahre 2018 bis 2021. Im Oktober lag er bei den Haushaltskunden rund 42 Prozent niedriger, bei der Industrie etwa 27 Prozent. Viele bekommen ihre Gasrechnung erst am Ende des Jahres. Durch den Gaspreisdeckel müssen sie zwar den Dezember-Abschlag nicht zahlen. Dennoch wird wahrscheinlich dem einen oder anderen dann so richtig klar, wie hoch sein Gasverbrauch ist und was der kostet.
EID: Welche Handlungsoptionen haben Sie für den Fall einer Gasmangellage?
Klaus Müller: Die Fachleute in unserem Haus bereiten sich seit Monaten auf diese Situation vor. Regelmäßig beraten wir uns mit der Energiewirtschaft, Unternehmen und Verbänden. Sollte die Gasmangellage nicht durch Ausspeichern aufgelöst werden können, werden wir so genannte Verfügungen erlassen. Bei allen Verfügungen geht es darum, Gasverbrauch zu reduzieren, um zu verhindern, dass der lebenswichtige Bedarf an Gas nicht mehr gedeckt werden kann. Bevor einzelne, sehr große Unternehmen dazu aufgefordert werden, kommt die Allgemeinverfügung zum Tragen. Sie richtet sich an die etwa 40.000 RLM-Letztverbraucher, also größere Industrie- und Gewerbekunden mit einem Gasverbrauch von mindestens 1,5 Millionen kWh. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, z.B. für die grundlegenden sozialen Dienste wie Gesundheit oder Bildung. Vorgesehen ist auch die Komfortkürzung. Sie betrifft private Wohnungen, Büros, Betriebe und Geschäftsräume. Niemand soll frieren. Aber eine Sauna oder ein Pool sind Dinge, auf die man angesichts einer existenziellen Krise verzichten kann.
EID: Eine Option für die Industrie ist die Versteigerung benötigter Gasmengen. Was wird es bringen, wenn Industrieunternehmen ihre Gaskontingente gegen einen Geldbetrag auf den Markt bringen? Welche Wirkungen wollen Sie damit erzielen?
Klaus Müller: Sie sprechen vom Regelenergieprodukt. Der entscheidende Vorteil des Modells ist, dass es eine effizientere Abschaltreihenfolge ermöglicht, als Anordnungen der Bundesnetzagentur es leisten könnten. Wir sind überzeugt, dass diejenigen, die das Gas beziehen, also die Unternehmen, besser beurteilen können als eine Behörde, an welcher Stelle eine Gasreduktion am wenigsten schadet. Und genau dies können sie über ihre Gebote signalisieren.
Für die Unternehmen liegt der Mehrwert damit auf der Hand: Erhalten sie den Zuschlag, bekommen sie eine Vergütung. Sie bestimmen dabei selber den Preis, den Zeitpunkt, das Volumen und die Dauer der Abschaltung. Zudem bestehen für die Unternehmen kurzfristige Anpassungsmöglichkeiten, da sie bereits abgegebene Gebote jederzeit von der Plattform nehmen und zum Beispiel am nächsten Morgen erneut eintragen können.
Das Regelenergieprodukt schafft im Kern also einen marktbasierten Mechanismus, um die Notfallstufe nach dem Notfallplan Gas zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern. Selbstverständlich ist ein umfangreicher Einsatz des neuen Regelenergieprodukts nicht wünschenswert. Dieser wäre Zeugnis der angespannten Situation, in der sich unsere Gasversorgung dann befindet, und es wird unter Umständen nur noch um Schadensbegrenzung gehen.
EID: Kommen wir zum Strommarkt: Welchen Effekt erwarten Sie von der Verlängerung der KKW-Laufzeiten bis April 2023? Wird die Stromversorgung stabil bleiben? Welche Rolle spielen dabei unsere europäischen Nachbarn?
Klaus Müller: Die Verlängerung der KKW-Laufzeiten wird einen überschaubaren Effekt auf den Strommarkt haben, trotzdem hilft uns die Entscheidung des Kanzlers in der besonderen Lage dieses Winters – vor allem wenn wir zu unseren französischen Nachbarn blicken.
In letzter Zeit war öfters von einem möglichen Blackout die Rede, der natürlich Angst macht. Ein Blackout ist ein unkontrollierter und unvorhergesehener Ausfall, bei dem mindestens größere Teile des europäischen Stromnetzes ausfallen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn in einer angespannten Verbrauchs- und Erzeugungssituation zusätzlich schwere Fehler an neuralgischen Stellen des Netzes auftreten. Ein solches Ereignis ist äußerst unwahrscheinlich. Die Übertragungsnetzbetreiber sorgen seit Jahrzehnten für eine stabile Stromversorgung. Sie halten die Stromerzeugung und den Stromverbrauch im Gleichgewicht und beugen Überlastungen der Leitungen vor. Dazu verfügen sie über zahlreiche Sicherungsmechanismen, die selbst bei größeren Störungen einen völligen Zusammenbruch verhindern sollen. Unter anderem können sie Reserven mobilisieren, um das Stromnetz zu stabilisieren. Diese Mechanismen werden kontinuierlich geprüft und angepasst. Die Übertragungsnetzbetreiber haben kürzlich im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums in einem Stresstest verschiedene extreme Szenarien zur Stromversorgung im kommenden Winter durchgerechnet. Die Versorgungssituation kann im kommenden Winter aus vielfältigen Gründen angespannt sein. Gründe sind die Gasversorgung, aber auch die Frage, wie sich die angespannte Lage auf dem französischen Energiemarkt auswirkt und welche Kraftwerke in Europa insgesamt im Winter verfügbar sind.

EID: Welche Rolle wird in Zukunft grüner Wasserstoff spielen? Viele Marktakteure setzen auf den Import aus Regionen, in denen viele erneuerbare Erzeugungskapazitäten zur Verfügung stehen. Wegen Umwandlungsverlusten und der notwendigen Transporte ist dies energetisch aber durchaus fragwürdig. Wäre es nicht sinnvoller, den überschüssigen Windstrom aus Norddeutschland, der nicht in die Verbrauchszentren im Süden abtransportiert werden kann, vor Ort per Elektrolyse in Wasserstoff umzuwandeln und somit speicherbar zu machen? Derzeit werden Windanlagen zu oft abgeregelt und die Betreiber für den Ausfall entschädigt.
Klaus Müller: Grüner Wasserstoff wird im zukünftigen Energiesystem ohne Zweifel eine sehr wichtige Rolle spielen. Dabei wird es darauf ankommen, ihn als kostbare Ressource zu begreifen. Wir wollen ihn dort einzusetzen, wo es unbedingt nötig ist, beziehungsweise wo seine Beschaffung und Nutzung effizient ist, zum Beispiel für die Stromerzeugung in zukünftigen Reservekraftwerken oder in bestimmten industriellen Prozessen.
Mit der Nationalen Wasserstoffstrategie aus dem Jahr 2020 ist ein erster Schritt zur Klärung der zukünftigen Rolle von Wasserstoff getan, dem weitere folgen müssen. Welche Festlegungen es braucht und wie diese ausfallen, entscheidet nicht die Bundesnetzagentur, sondern der politische Prozess. Idealerweise wäre die Rolle von Wasserstoff als wichtiges Element der vor wenigen Wochen vom BMWK angestoßenen Systementwicklungsstrategie, die erstmals bis Ende 2023 ein gesamthaftes Leitbild für die Transformation des Energiesystems etablieren soll, zu diskutieren und zu definieren.
Was den „überschüssigen“ Windstrom aus Norddeutschland angeht, gilt natürlich die gleiche physikalische Realität hinsichtlich der Umwandlungsverluste. Auch hier hätten wir es bei Lichte betrachtet mit einem Import von Wasserstoff aus Regionen mit hohen EE-Kapazitäten zu tun. Das Problem ist ein anderes: In erster Linie ist dieser Windstrom deswegen „überschüssig“ und wird abgeregelt, weil es beim ungleich wichtigeren Ausbau der Stromübertragungsnetze leider nach wie vor hakt. Dieses Transportproblem gilt es vorrangig zu lösen. Die Windkraftanlagen in Norddeutschland werden ja nicht abgeregelt, weil der dort erzeugte Strom nicht gebraucht wird, sondern weil er nicht dorthin transportiert werden kann, wo er gebraucht wird.
EID: Lassen Sie uns zum Abschluss nach vorne blicken: Wo werden wir Ihrer Meinung nach in einem Jahr bei der Versorgungssicherheit bei Strom und Gas stehen?
Klaus Müller: Wenn ich mir vor Augen halte, dass wir es in der Rekordgeschwindigkeit von nur sieben Monaten geschafft haben, die russischen Fehlmengen zu ersetzen, unsere Speicher zu füllen, über 20 Prozent Gas zu sparen und LNG-Terminals zu bauen, bin ich zuversichtlich. Das alles war ein gemeinsamer Kraftakt, der auch zeigt, was möglich ist. Unser Ziel bleibt ja, die fossilen Energieträger hinter uns zu lassen und sie durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Das Oster- und das Sommerpaket bieten uns den gesetzlichen Rahmen, den Netzausbau zu beschleunigen. Da müssen wir hin. Die Windkraft aus dem Norden ist ja da, sie erhöht unsere Unabhängigkeit und vor allem hilft sie uns, dem Ziel der Klimaneutralität näher zu kommen. In einem Jahr werden wir auch hoffentlich andere Lieferquellen aufgetan haben; die Verhandlungen laufen bereits. Bundeskanzler Scholz hat sehr deutlich gemacht, dass die Regierung am Atomausstieg festhalten wird. Diese Energie wird also keine Option mehr sein. Wir können es uns bei entsprechenden Anstrengungen auch leisten, aus der Kohle auszusteigen. Auch das ist eine gute Nachricht fürs Klima, besser noch: für uns alle.
Zur Person
Klaus Müller ist seit 2022 Präsident der Bundesnetzagentur.
Am 1. März trat Klaus Müller die Nachfolge von Jochen Hohmann an, der nach zehn Jahren an der Spitze der Bundesnetzagentur in den Ruhestand verabschiedet wurde.
Müller war zuvor seit 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbandes. Politisch engagierte sich der 51-jährige Volkswirt bei den Grünen im Bundestag und im Kieler Landtag. Von 2000 bis 2005 war Müller Umweltminister in Schleswig-Holstein.
Dieses Gespräch mit Klaus Müller wurde im November 2022 geführt. Das Interview dann in der EID Chronik 2022 im Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.